Besonderheiten der Region Hardegsen

Ein prominentes Stück Weltgeschichte

Hardegsen ist eine geologische Berühmtheit: Die entstehungs­geschichtlichen Besonderheiten der Region sind in den Geowissenschaften als sogenannte Hardegsen-Formation fest verankert. Zustande gekommen ist dieser Begriff aufgrund einer spezifischen Gesteinsschichtung des Buntsandsteins, die in Hardegsen zu finden ist.

In den Geowissenschaften ist es üblich, Gesteinsschichtungen, die für einen bestimmten erdgeschichtlichen Ablagerungsprozess (Sedimentation) charakteristisch sind, nach dem Ort zu benennen, an welchem sie zum ersten Mal wissenschaftlich dokumentiert worden sind. Solche charakteristischen Gesteinsschichtungen (auch: Formationen oder Folgen) heißen in der Fachsprache „lithostratigraphische Einheiten“.

Die Entstehung der lokalen Kalksteinvorkommen sowie des Buntsandsteins, zu dem die Hardegsen-Formation zählt, fällt in das erste Drittel der Germanischen Trias. Wir haben es hier demnach mit Rohstoffen zu tun, die mehr als 239 Mio. Jahre alt sind.

Vor der Entstehung des Kalksteins, in den ersten rund 6 Mio. Jahren der Germanischen Trias, kam es zur Bildung des Buntsandsteins. Während dieser Zeitspanne trugen Fließgewässer Bodenmaterialien wie Sand, Schluff und Ton von den umliegenden Hochgebieten in die Senke des Germanischen Beckens ein. Da diese Fließgewässer – ebenso wie von ihnen gespeiste Seen – jeweils nur phasenweise existierten und zwischenzeitlich immer wieder austrockneten, lagerten sich die eingeschwemmten Materialien in vielen Sedimentschichten ab und verfestigten sich. So entstand das gebänderte Aussehen des Gesteins, dessen vieltönige Färbung ihm den Namen Buntsandstein einbrachte.

Die heute als Hardegsen-Formation bezeichnete Schichtfolge bildete sich über einen Zeitraum von etwa 1,2 Mio. Jahren und ist rund 251 Mio. Jahre alt.

Bodenschätze der Region:
Schon immer benötigt, schon immer begehrt

Althergebrachtes wird heutzutage gern mit dem Begriff der ‚Tradition‘ belegt und damit nicht selten auch nostalgisch verklärt. Die ‚Bergbautradition‘ ist dabei keine Ausnahme. Bei näherer Betrachtung erschließt sich jedoch schnell, dass, neben wirtschaftlichen Vorteilen, vor allem harte Arbeit und die Befriedigung essentieller Bedürfnisse eine solche Tradition begründen.

Basalt und Braunkohle, Sand und Salz

In Hardegsen und Umgebung wurden und werden seit etwa Mitte des 19. Jhdt. verschiedene Rohstoffe wirtschaftlich abgebaut. Den wohl ältesten Zweig bildet dabei der Basaltabbau im Waldgebiet Bramburg bei Adelebsen. Ein historischer Ort des regionalen Braunkohleabbaus ist der Bergsee am Westrand von Delliehausen. Das heutige Naherholungsidyll ist ein Tagebaurestloch, das 1985 als Naturdenkmal ausgewiesen wurde.

Da von der begehrten Braunkohle der zwischengelagerte Sand abgesiebt werden mussten, lohnte sich der parallele Betrieb einer Sandwäscheanlage in Delliehausen. Der hochwertige Quarzsand war insbesondere für Glasfabriken ein gefragtes Rohmaterial. Minderwertiger Sand wurde als Stubensand für die Dielenfußböden der Wohnhäuser benötigt. Vor allem Händler aus Hardegsen, das bereits seit dem 17. Jhdt. als ‚Eselsstadt‘ bekannt ist, kamen mit ihren Grautieren, um den Stubensand zu den Haushalten der Umgebung zu transportieren. Ihre einstige Berufsbezeichnung ‚Eseltreiber‘ verschwand ab 1850 aus den Akten und wich der Bezeichnung ‚Sandhändler‘ bzw. ‚Sandfuhrmann‘.

Gruben zur Sandgewinnung existierten in der Region ebenfalls frühzeitig. Für das Blatt Hardegsen ist in den 1906 erschienenen Erläuterungen zur geologischen Karte von Preußen und benachbarten Bundesstaaten der Königlich Preußischen Geologischen Landesanstalt vermerkt, Quarzsande würden „in Sandgruben vielfach gewonnen, so bei Schlarpe, nördlich vom Kaliwerk Justus I, nördlich Volpriehausen und in der Richtung Lauenberg“. Sandgruben jüngeren Datums, in denen bis heute abgebaut wird, sind in Delliehausen und Sohlingen zu finden.

Das Werk Justus I in Volpriehausen förderte ab 1901 Kalisalz und Steinsalz und beschäftigte zur Hochzeit 800 Menschen. Anfang der 1930er Jahre waren die Salzvorkommen allmählich erschöpft. Das Werk wurde 1938 von der Nazi-Wehrmacht übernommen, geschlossen und in eine Heeresmunitionsanstalt umgewandelt. In Volpriehausen gibt seit 1985 das Kalibergbau Museum spannende Einblicke in die hiesige Salzabbau-Geschichte.

Exportschlager Solling-Sandstein

Auch der in der Region sehr häufig anzutreffende Buntsandstein war schon früh als Abbaumaterial beliebt. Die o. g. Erläuterungen zur Geologischen Karte von Preußen verzeichnen Sandsteinbrüche „am Hohen Rott, in der Wöseker Sommerhalbe und am Wöhlerberg westlich Delliehausen“, ferner „bei Hettensen, Ellierode, Lichtenborn, Hardegsen, Trögen etc.“. Explizit für den Bereich nördlich von Hardegsen ist von „großen Steinbrüchen“ die Rede. Zur Zeit der Abfassung der Erläuterungen 1906 ist die Ausbeutung des sogenannten Solling-Sandsteins (auch: Wesersandstein) jedoch mitnichten ein junges Phänomen, denn dieser wurde und wird bereits seit rund 1.000 Jahren abgebaut und als vielseitiges Baumaterial genutzt.

Mit der Weserschifffahrt und später per Eisenbahn wurde der Solling-Sandstein bis nach Bremen und von dort weiter nach Dänemark, in die Niederlande und andere entfernte Gefilde transportiert. Schon im 18. Jhdt. gelangten die ersten Solling-Sandsteine per Segelboot sogar bis nach Nordamerika. Historische Gebäude wie die Kiliankirche in Höxter (um 1100), der Ertinghäuser Eisenbahntunnel (Ende 19. Jhdt.) und das Marine-Ehrenmal in Laboe (um 1930) sind mit Solling-Sandstein errichtet worden. Heute wird nahe Bad Karlshafen noch immer Solling-Sandstein abgebaut und teils ins europäische Ausland sowie bis nach Kanada exportiert.

Ton und Kalk

Ton und Kalkstein blicken in der Region Hardegsen auf eine lange Geschichte in Menschenhand zurück. Fredelsloh avancierte bereits im 13. Jhdt. zu einem überregional bedeutsamen Zentrum für Töpferkunst – was nicht zuletzt den hochwertigen Eigenschaften der hiesigen Tonvorkommen zuzurechnen ist. Ein spektakuläres Zeugnis der Tongestaltung aus noch früheren Zeiten der Menschheit wurde 2006 an der Stelle des heutigen Gewerbeparks Hardegsen gefunden: Die dort geborgene, als „Schweinebär“ benannte Tonfigur ist ein rund 8.000 Jahre altes Relikt der Linienbandkeramischen Kultur (5300 bis 4000 v. u. Z.).

Ton und Kalk hängen im wörtlichen Sinne unmittelbar zusammen: Die geologische Nomenklatur umfasst insgesamt neun Mischrohstoffe aus Kalk (Carbonat) und Ton, die sich nach den jeweiligen Anteilen der beiden Materialien unterscheiden. Sie reichen vom ‚reinen‘ Ton mit 95-100 % Ton- und 0-5 % Kalkgehalt zu ‚reinem‘ Kalk, der 0-5 % Ton- und 95-100 % Kalkgehalt aufweist. Dazwischen liegen bspw. Mergel (65-35 % Kalk, 65-35 % Ton), Mergelkalk (75-85 % Kalk, 15-25 % Ton) und Tonmergel (35-25 % Kalk, 65-75 % Ton).

Die verschiedenen Mergelböden wurden früher insbesondere zur Entsäuerung und Stabilisierung trockengelegter Feuchtgebiete sowie zur Strukturverbesserung von Äckern und Feldern (= Mergeln) eingesetzt. Schon die Kelten verwendeten etwa ab Beginn unserer Zeitrechnung Kalk aus Abbaugruben für ihre Äcker. Das Mergeln führt ohne die Beigabe weiterer Nährstoffe dazu, dass die Böden im Laufe der Zeit auslaugen und unfruchtbar werden (ausmergeln). Daher auch die Bauernregel: „Mergel macht reiche Väter und arme Söhne“.

Kalk ist nicht nur als Bodenverbesserer ein steter und bedeutender Begleiter der menschlichen Zivilisation: Schon vor 14.000 Jahren wurde Kalk zur Herstellung von Mörtel genutzt. Die rund 2.000 Jahre alte Chinesische Mauer ist auf einem kalkhaltigen Fundament mit kalkhaltigem Mörtel errichtet worden. Die Cheops-Pyramide (rund 4.500 Jahre alt) wurde aus über 2 Mio. Kalkblöcken erbaut. Mit den Römern erreichte vor annähernd 2.000 Jahren die Technik der Kalkbrennerei auch in Germanien einen hohen industriellen Standard. Dies sind nur einige der prominentesten Beispiele für die Bedeutung von Kalk in der globalen Menschheitsgeschichte.

Das medizinische Werk „Baganighantu“, verfasst zwischen 1235 und 1250 vom Kashmirer Arzt Narahari, verzeichnet Kreide als Arzneimittel u.a. gegen Blutungen und Augenleiden sowie als Antiseptikum. Kalkspatkristalle sind dort als Mittel gegen Asthma, Koliken, Blähungen, Husten und Gallenleiden aufgeführt. Im Mittelalter gaben die europäischen Alchimisten dem Kalk mit der Kalkrune ein eigenes Zeichen. Er wurde bspw. zu Desinfektionszwecken eingesetzt, indem man die Wände und Böden ‚verseuchter‘ Wohnungen kalkte, Kalkmilch in Fäkalgruben goss und die Leichen von Pestopfern mit gelöschtem Kalk bedeckte. In Hardegsen wird seit der vorletzten Jahrhundertwende Kalk in größerem Umfang für verschiedene, wechselnde Zwecke abgebaut.