Geologie im Kalksteinwerk Hardegsen

Rohstoff aus den Urmeeren

Wo sich heute Wanderwege über grüne Hügel ziehen und die Hardegser Bevölkerung alljährlich zu Eselsmarkt und Burgfest einlädt, war einst ein Meer. Viele Jahrmillionen ist das schon her, doch entstanden dadurch Bodenschätze, mit denen später die Menschheit ‚ihre Welt‘ erbauen sollte – und die noch heute unentbehrlich sind.

Hardegsen liegt geologisch betrachtet mitten im Zentrum des einstigen Germanischen Beckens (auch: Mitteleuropäisches Becken), einer weiträumigen Senke, die sich vor mehr als 250 Mio. Jahren im Zeitalter des Perms gebildet hat und von den Britischen Inseln bis nach Polen reichte. Im Laufe der Jahrmillionen war das Germanische Becken mehrfach von Flachmeeren eingenommen (Flachmeer = Meer mit Tiefen bis max. 1 km). Diese entstanden durch Vorstöße der Urmeere, die große Teile des Superkontinents Pangäa fluteten. Nach Rückzug der Urmeere blieb in der Senke des Germanischen Beckens jeweils für einen längeren Zeitraum ein flaches Meer zurück, das schließlich wieder austrocknete bzw. verdampfte.

Jene Geschehnisse führten zur Bildung verschiedener Sedimente (Ablagerungen). Im Germanischen Becken hinterließen vor allem das Zechsteinmeer (Zeitalter des Zechsteins: vor 257,5 Mio. bis 252,5 Mio. Jahren) und die Flutereignisse während der Germanischen Trias (vor 252,5 Mio. bis 201,5 Mio. Jahren) ausgeprägte Sedimentschichten. Ein Sediment, das aus einem Flachmeer der Germanischen Trias hervorging, ist der Kalkstein, der heute die Rohstoffbasis des Steinbruchs Hardegsen-Lutterhausen bildet.

Kalkstein aus dem Tethys-Meer

Kalkstein, genauer gesagt: die Sedimentgruppe des Muschelkalks, entstand im Zeitraum vor 245 Mio. bis 235 Mio. Jahren. Im hiesigen Niedersächsischen Becken, einem Teilbecken des Germanischen Beckens, wurde Muschelkalk mit Mächtigkeiten bis zu 225 m festgestellt. Besonders Sedimentgestein aus dem Unteren Muschelkalk ist in der Region ausgeprägt vertreten.

Bei den Kalksedimenten, die den Höhenzug Weper bilden und im Steinbruch Hardegsen-Lutterhausen abgebaut werden, handelt es sich ebenfalls um Sedimentgestein des Unteren Muschelkalks. Es sind die ersten und somit ältesten Ablagerungen der Muschelkalkgruppe. Sie entstanden in einer Zeitspanne von gut 2 Mio. Jahren und sind knapp 245 Mio. Jahre alt. Im Steinbruch Hardegsen-Lutterhausen ist der Muschelkalk bis zu ca. 100 m mächtig.

Der Untere Muschelkalk geht auf einen Meereseinbruch von Osten zurück. Seine Haupt-Bestandteile stammen demnach ursprünglich aus dem Tethys-Meer, einem Seitenmeer des Urozeans Panthalassa. Während der Entstehungszeit des Unteren Muschelkalks hatte das Flachmeer im Germanischen Becken eine Wassertiefe zwischen 15 m und maximal 100 m und eine Ausdehnung von 500.000 km². Es erstreckte sich zwischen Polen, dem Alpenvorland und Nordfrankreich bis zur Nordsee (Helgoland). Südniedersachsen mit der Region um Hardegsen lag also mittendrin.

Die Bezeichnung Muschelkalk legt richtigerweise nahe, dass Muscheln bzw. deren Schalen elementare Grundstoffe für die Bildung des Sedimentgesteins lieferten. Jedoch waren bei weitem nicht nur Muscheln, sondern auch andere schalen- oder skelettbildende Meeresorganismen beteiligt. So etwa die Armfüßer – im Aussehen den Muscheln sehr ähnlich, jedoch nicht mit ihnen verwandt – ferner Korallen, Schnecken, Krebse, Einzeller mit Schale und viele weitere Lebewesen. Mit ihren Überresten nach dem Ableben standen die für die Kalksteinbildung fundamentalen Calciumverbindungen zur Verfügung. Einen weiteren Teil lieferte das von Natur aus im Meerwasser enthaltene Calcium.

In Anlehnung an die vielen im Sediment gut sichtbaren muschelförmigen Fossilien sowie die von Calciumcarbonat dominierte Zusammensetzung des Gesteins prägte der deutsche Geologe, Mediziner und Naturforscher Georg Christian Füchsel (1722 - 1773) im 18. Jhdt. den Fachterminus Muschelkalk.

Vom Meer zum Hardegser Kalkstein

Für die Bildung des Sedimentgesteins Unterer Kalkstein ist eine Reihe von Faktoren verantwortlich. Einflüsse von besonderer Tragweite hatte der (schwankende) Wasseraustausch zwischen dem Tethys-Meer und dem Flachmeer im Germanischen Becken (zur Erinnerung: der Untere Muschelkalk entstand in einem Zeitraum von gut 2 Mio. Jahren). Flachmeer und Tethys-Meer waren nur über zwei schmale Meerengen miteinander verbunden. Diese Meerengen waren, bspw. durch Schwankungen des Meeresspiegels, mal stärker und mal weniger stark überflutet.

Waren die Meerengen nur wenig überflutet und der Zufluss von Ozeanwasser zum Germanischen Becken gering, nahm die Salzkonzentration im Binnenmeer allmählich zu (= zunehmende Salinität). Grund dafür war, neben der fehlenden Frischwasserzufuhr, eine hohe Verdunstung durch das trocken-heiße Klima im Inneren des Kontinents. Mitteleuropa lag nämlich zu dieser Zeit noch wesentlich näher am Äquator, in der Klimazone der Subtropen.

Ein zunehmender Salzgehalt bedeutet für viele Organismen lebensfeindliche Bedingungen. Organismen, die die erhöhten Salzkonzentrationen nicht tolerieren konnten, starben daher ab. Ihre calciumhaltigen Überreste und deren Zerfallsprodukte wurden so zum Grundstock des Kalksteinsediments. Große Temperaturschwankungen sowie ein phasenweise stark verringerter Sauerstoffgehalt im Flachmeer brachten vergleichbare Effekte mit sich. Selbstverständlich trugen auch diejenigen Lebewesen zur Anreicherung des Sediments mit Calcium bei, die unabhängig von Umweltextremen eines natürlichen Todes starben.

Ferner spielte für die Sedimentbildung der Vorgang der Calciumausfällung eine Rolle. Hierbei wird das gelöste Calcium als Feststoff – in winzigen Teilchen – aus der Lösung, in diesem Falle dem Meerwasser, ausgeschieden (= ausgefällt). Im Laufe der Zeit bildet es so einen Bodensatz. Zu einer sogenannten abiotischen (= nicht von Organismen beeinflussten) Ausfällung von Calcium kommt es, wenn die Lösung mit Calcium übersättigt ist und geeignete Außenbedingungen vorliegen. Begünstigend sind bspw. erhöhte Temperaturen. Ein wohlbekanntes Alltagsbeispiel für solche abiotischen Calciumausfällungen ist die verkalkte Kaffeemaschine.

Im Meer wird Calciumausfällung außerdem durch die Stoffwechseltätigkeit von kleinsten Meeresorganismen (Mikroben) verursacht (sog. biologisch hervorgerufene Ausfällung). Eine weitere Form der Calciumausfällung ist die biologisch verursachte Ausfällung. Dies meint die Verwertung des im Wasser gelösten Calciums durch Meereslebewesen, z. B. Korallen und Muscheln, zur Bildung von Schalen oder Skeletten. Calciumausfällungen, die im Zusammenhang mit Lebewesen erfolgen, werden auch biogene oder organogene Calciumausfällungen genannt. Mit ihnen schließt sich der Kreis zur Entstehung von Muschelkalk als Produkt des Werdens und Vergehens von Meeresorganismen.

Ein wahrhaft vielschichtiges Gestein

Südniedersachsens Unterer Muschelkalk weist aus geologischer Sicht mehr als 20 verschiedene Abschnitte auf. Für Fachleute geben diese Abschnitte sehr genaue (wenn auch nicht immer letztgültig erschöpfende) Auskunft darüber, was sich zur Zeit ihrer Entstehung auf dem Planeten abgespielt hat. Zwar kann an dieser Stelle nicht das gesamte komplexe Zusammenwirken der mannigfachen Faktoren ihrer Entstehung erörtert werden (bspw. Klima, Wetter, tektonische Vorgänge, chemische Prozesse, Entwicklungsstadien von Fauna und Flora etc.), doch sei im Folgenden zumindest ein Streiflicht auf einige zentrale Aspekte geworfen.

Die einzelnen Abschnitte (= Bänke) des Unteren Muschelkalks bestehen vornehmlich aus mergeligem Kalkgestein, dem sogenannten Wellenkalk. Zwischen den Wellenkalkbänken, die zumeist mehrere Meter (örtlich bis zu 20 m) mächtig sind, finden sich sogenannte Terebratel-, Oolith- und Schaumkalkbänke. Diese zwischengeschalteten, manchmal nur wenige Zentimeter dicken Bänke heißen auch Leitbänke oder Leithorizonte, da sie besonders auffällige und charakteristische Merkmale des Gesteinsverbunds Unterer Muschelkalk darstellen. In Hardegsen ist die Gesteinsschichtung ausgeprägt sichtbar. Insbesondere die Terebratelbank, die mit ihrem sehr harten Gestein aus den Abbruchflächen meist etwas hervorsteht, zeichnet sich als Leithorizont deutlich ab. Entstehungsgeschichtlich zeigt das Auftreten solcher Leithorizonte zwischenzeitliche Veränderungen der damals herrschenden Umweltbedingungen an.

Eine Wellenkalkbank besteht ihrerseits aus vielen dünnen Schichten mit welligen Ober- und Unterseiten, denen der Wellenkalk seinen Namen verdankt. Er ist mergelig (d. h. er setzt sich zusammen aus 95 % - 85 % Kalk und 5 % - 15 % Ton) und hatte vor seiner Verfestigung eine schlammige Konsistenz. Dieser sog. Karbonatschlamm bot nur wenigen Lebewesen die Voraussetzungen, um sich erfolgreich anzusiedeln. Ferner wird er mit Phasen ansteigender Salzkonzentration und damit verstärkt lebensfeindlichen Bedingungen in Zusammenhang gebracht.

Vom Salzgehalt unabhängig ist die Entstehung von kleinen Mineralkügelchen (0,1 mm - 2 mm), den Ooiden, die die Oolithbänke charakterisieren. Phasen mit hohen Verdunstungsraten begünstigten die Entstehung von Ooiden. Für sie bietet flaches, leicht bewegtes, warmes Meerwasser beste Voraussetzungen: U. a. durch die Temperaturerhöhung kommt es zur vermehrten Calciumausfällung. Das ausgefällte Calcium heftet sich an im Wasser schwebende Partikel (bspw. winzige Bruchstücke von Muschelschalen) an, die durch die ‚rollende‘ Wasserbewegung ihre runde Form erhalten. Die so entstehenden Ooiden sinken schließlich zu Boden, wo kalkiges und toniges Material sie untereinander verkittet und es zur Verfestigung des oolithischen Sediments kommt. Oolithgestein, aus dem die Ooiden durch spätere Verwitterungsprozesse verschwinden (auswittern), bleibt als feinporiges Kalkgestein zurück. Um ein solches handelt es sich bei den genannten Schaumkalkbänken.

Beim dritten Leithorizont, den Terebratelbänken, ist der Armfüßer (Brachiopode) Terebratula vulgaris Namensgeber. Das Fossil ist in den entsprechenden Gesteinsschichten besonders ausgeprägt vertreten. Daneben zeugen die Überreste zahlreicher anderer Meereslebewesen (bspw. Schnecken, Muscheln, Stachelhäuter) von einer insgesamt sehr reichen Fauna. Sie steht im Zusammenhang mit zwischenzeitlichen Umwelteinflüssen wie einer verminderten Sedimentablagerung (= wenig Schlick, mehr Hartboden), einer verbesserten Versorgung mit Licht und Sauerstoff sowie dem Eintrag von ‚neuem Leben‘ durch einströmendes Frischwasser aus dem Tethys-Meer.

Die Gesteinsfolge des Unteren Muschelkalks aus diversen Wellenkalk- sowie Oolith-, Schaumkalk- und Terebratelbänken erlaubt das Gewinnen von qualitätsvollem Rohmaterial im Kalksteinbruch Hardegsen-Lutterhausen. Aus diesem stellen wir in anschließenden Aufbereitungsprozessen u. a. zertifizierbare Mineralstoffe für den Straßen- und Wegebau sowie Brechkörnungen als Betonzuschlag her.